Kategorie: Studien

Das Gendermärchen in den Medien

Eine Hauptthese von Befürwortern des Genderns lautet, bei Wörtern wie Bürger, Freunde oder Lehrer würden wir „vor allem an Männer denken“. (Oder auch: „Die meisten denken beim generischen Maskulinum an Männer“.) Studien hätten das belegt. Warum das ein Märchen ist, habe ich für die Berliner Zeitung aufgeschrieben.

Obwohl die These falsch ist und die Studien den behaupteten Beweis nie erbringen konnten, hat eine riesige Zahl an (Qualitäts-)Medien über diesen sogenannten male bias des generischen Maskulinums so berichtet, als sei er wissenschaftlich bestätigt. Hier folgt eine Auswahl entsprechender Medienberichte sowie einiger anderer Publikationen. Die Sammlung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Wahrscheinlich ist es nur die Spitze des Eisbergs. Die Sammlung wird fortlaufend erweitert.

Es sei vorab noch einmal ausdrücklich betont, dass die nun folgenden Zitate allesamt wissenschaftlich nicht haltbar sind.

  • „Viele psycholinguistische Studien zeigen aber: Bei Sätzen, die im generischen Maskulinum formuliert sind, stellen sich die meisten Menschen vor allem Männer vor.“ – Lara Schwenner, WDR-Sendung „Quarks“
  • „Eine große Zahl an psycholinguistischen Experimenten weist darauf hin, dass wir bei generischen Maskulina vorwiegend an Männer denken. Sie führen nicht zu Geschlechtergerechtigkeit in unseren Vorstellungen, das kann als wissenschaftlich erwiesen gelten.“ Überschrift: „Und trotzdem denken die meisten an Männer“. – Lena Völkening in der ZEIT
  • Studien zeigen immer wieder: Theoretisch meint das Wort „Polizisten“ männliche und weibliche Einsatzkräfte. Praktisch denken die meisten Menschen an Männer – außer es ist auch von „Polizistinnen“ die Rede.“ – Annika Schneider, Online-Text des Deutschlandfunks
  • „Studien haben gezeigt, dass das mit dem „Mitmeinen“ in der Regel eher schlecht als recht funktioniert. Menschen denken, wenn sie die männliche Form lesen, vor allem an Männer.“Der Standard
  • „Beim Arzt denken viele an einen Mann“ – Philipp Wundersee, Tagesschau-Kommentar
  • „Wie wissenschaftliche Arbeiten zeigen, steigt die Wahrnehmung von Frauen, wenn auch die weibliche Form abgebildet wird. Wenn bei der Verwendung des sogenannten generischen Maskulinums – also zum Beispiel „die Lehrer“ – eher von Männern ausgegangen wird, werden bei gendergerechter Sprache – zum Beispiel „die Lehrkräfte“ – in mehreren Studien mehr Frauen in Betracht gezogen.“ – Philip Wegmann, SWR-Radiobeitrag
  • „Das generische Maskulinum lässt eher an Männer denken, so das Argument der Befürworter des Gendersterns.“ – Teaser zu einem Radiobeitrag des RBB
  • „Diverse Studien weisen darauf hin, dass die männliche Sprachform psycholinguistisch mit Männern verbunden wird, also keineswegs geschlechtsneutral wirkt.“ – Redaktion der Zeistchrift GEO
  • „Laut einer Studie führt das allgemein verwendete generische Maskulinum dazu, dass in den Köpfen der Menschen tendenziell Bilder von Männern entstehen.“ – Nikola Kraa auf Focus Online
  • „Studien haben erwiesen, dass das generische Maskulinum Bilder in den Köpfen erzeugt, die nicht mit der Realität übereinstimmen. Wenn von Polizisten die Rede ist, haben die meisten Menschen nun mal Männer in Uniform im Kopf, keine Frauen.“ – Lea Thies in der Augsburger Allgemeinen
  • „Das generische Maskulinum denke ja alle Menschen mit, heißt es oft von Befürwörter:innen. Aber dem ist nicht so. Mal abgesehen davon denken Worte nicht, sondern bilden lediglich die Realität ab. Das ist zumindest ihre eigentliche Aufgabe. Aber Worte wie „Lehrer“ oder „Arzt“ tun das nicht. Wohingegen „Lehrer:innen“ oder „Ärzt:innen“ eine Schweigesekunde erzwingt für Menschen, die von der deutschen Sprache diskriminiert und unsichtbar gemacht werden.“ – Christian Schierwagen in der Brigitte.
  • „Das andere beliebte Argument derjenigen, denen das * oder der : zu anstrengend ist: „Es sind doch alle mitgemeint.“ Nur stimmt das leider nicht. Menschen haben bei der männlichen Form auch tatsächlich Männer vor Augen, das ist in vielen Studien belegt.“ – Redaktion der Website netzpoltik.org
  • „Der Knackpunkt der ganzen Diskussion liegt in der Annahme, dass die grammatisch maskuline Form die Leser und Hörer grundsätzlich vor allem an Männer denken lässt. Studien belegen diese Tendenz.“ – Jonathan Steinert im christlichen Medienmagazin Pro
  • „Viele psycholinguistische Studien zeigen aber: Bei Sätzen, die im generischen Maskulinum formuliert sind, stellen sich die meisten Menschen vor allem Männer vor“ – User Namens „Gast ArbeiterIn“ in der Zeitschrift renk
  • „Die Benachteiligung des weiblichen Geschlechts durch über wiegend männliche Bezeichnungen in Texten lässt sich beweisen. (…) Frauen mögen vielleicht »mitmeint« sein, werden aber nicht immer auch mitgedacht. Zu diesem Ergebnis kommen übereinstimmend und unabhängig voneinander ganz verschiedene Studien.“ – Katalin Vale in einer Publikation des Deutschen Journalisten-Verbandes

  • „Grammatisch mag das generische Maskulinum für alle gelten. Viele psychologische Studien zeigen aber: Dabei stellen sich die meisten Menschen Männer vor. Und somit stellt es die Welt nicht so divers dar, wie sie heute ist. Sprache lenkt die Wahrnehmung.“ Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg
  • „Das Fazit aus diesen Studien ist also eindeutig. Das generische Maskulinum ist zwar nach grammatischen Regeln generisch, in der Lebensrealität allerdings nicht. Es erzeugt vor allem männliche Bilder im Kopf und bildet damit die Gesellschaft nicht so ab, wie sie ist.“ – Patrick Röttele in einer Publikation der SPD Breisgau Hochschwarzwald
  • „Zahlreiche Studien belegen, dass wir bei solchen Wörtern [generische Maskulina] vor allem an Männer denken.“; „[Das] grammatikalische Geschlecht weckt unwillkürlich eher die Vorstellung von einem Mann.“Website der TÜV NORD GROUP
  • „Die Verwendung sogenannter „generischer Maskulina“, das heißt männlicher Personenbezeichnungen, bei denen Frauen gleichermaßen mitgemeint sind, ist (historisch) gebräuchlich. Es ist nachgewiesen, dass Frauen in solchen Formulierungen jedoch wesentlich seltener mitgedacht werden.“Gender-Leitfaden der Universität Köln

Streit ums Gendern: Nein, die deutsche Sprache diskriminiert Frauen nicht

Den folgenden Artikel habe ich für die Berliner Zeitung geschrieben. Der Text unterliegt der Creative Commons Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0), weshalb ich ihn hier ungekürzt zweitveröffentlichen kann.

Bei einem Wort wie Bürger würden wir „eher an Männer denken“. Studien hätten das belegt. Wer die Debatte um das Gendern der Sprache verfolgt, hat Aussagen wie diese wahrscheinlich oft gehört. Bislang weniger bekannt ist, dass Sprachwissenschaftler und Germanisten diese These als unhaltbar zurückweisen.

An den besagten Studien kritisieren sie gravierende wissenschaftliche Mängel; die Interpretation der Ergebnisse betrachten sie als falsch und irreführend. Was also geht uns beim Lesen und Hören wirklich durch den Kopf?

Um die Aussagekraft und Relevanz der Studien beurteilen zu können, ist es sinnvoll, sich zunächst eine empirische Tatsache vor Augen zu führen. Wörter wie Bürger, Lehrer, Freunde oder Demonstranten werden von den meisten Menschen als Bezeichnungen für Frauen und Männer benutzt und korrekt geschlechtsneutral verstanden. Gäbe es Verständnisprobleme (wie manche Genderbefürworter behaupten), wäre das längst aufgefallen: Wir müssten uns dauernd erklären, ständig nachfragen.

Lässt das generische Maskulinum an Männer denken?

Unter den meisten Sprachwissenschaftlern ist diese Tatsache auch anerkannt: Das generische Maskulinum werde von den Menschen ganz selbstverständlich verwendet und verstanden, sagt die Linguistin Ewa Trutkowski in der Berliner Zeitung. Dieselbe Position vertreten beispielsweise Heide Wegener und Peter Eisenberg. Und der Linguist Nikolaus Lohse schrieb jüngst: Die Unterscheidung zwischen der neutralen generischen und der spezifisch männlichen Lesart eines Wortes wie Lehrer mache im aktiven Sprachgebrauch „überhaupt keine Probleme“.

Dass dem so ist, wenigsten im alltäglichen Sprachgebrauch, bestätigt eine Studie von 2012 (De Backer, De Cuypere): In gängigen Zeitungssätzen wurden Pluralformen wie Schüler, Mieter, Leser etc. von den Probanden zu 99 Prozent geschlechtsneutral interpretiert. Berufsbezeichnungen wie Ärzte, Apotheker, Politiker usw. zu 94 Prozent. Der empirische Sachverhalt ist eindeutig.

Kommen wir zur Behauptung, wir würden bei den generischen Maskulina „eher an Männer denken“. Was damit gemeint ist, wird in den besagten Studien oft nicht eindeutig definiert. Man kann aber sagen, es geht im Grunde (fast) immer um Gedanken oder bestimmte Vorstellungen, die Wörter auslösen können: die berühmten „Bilder im Kopf“. Dass eine Fokussierung auf solche psychologischen Phänomene ziemlich fragwürdig ist, liegt eigentlich auf der Hand.

Denn zunächst einmal widerspricht es der Erfahrung, dass wir beim Hören oder Lesen von Texten bzw. Sätzen mit Personenbezeichnungen stets „Bilder im Kopf“ hätten, also Vorstellungen von den bezeichneten Personen. Es existieren auch keine wissenschaftlichen Belege für solche Effekte. Ob Texte Bilder im Kopf entstehen lassen, hängt, wie Profi-Schreiber wissen, unter anderem von der sprachlichen Gestaltung ab: Lebhafte Schilderungen und anschauliche Beschreibungen rufen leichter bildhafte Vorstellungen hervor als nüchtern berichtete Fakten und Sachinformationen.

Ferner gibt es keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass die Bilder im Kopf, wenn sie denn entstehen, stets konkret und ausdifferenziert sind. Wieder zeigt die Erfahrung etwas anderes: Unsere inneren Bilder sind oftmals ziemlich vage.

Was wir mit einem Wort verbinden, ist subjektiv

Oder wie konkret sind Ihre Vorstellungen der bezeichneten Personen bei folgenden Sätzen? „Berlin hat 3,6 Millionen Einwohner.“ „Die Steuerzahler werden wieder kräftig zur Kasse gebeten.“ „Bundesweit starben vergangenes Jahr 376 Fußgänger bei Verkehrsunfällen.“

Die Bilder im Kopf können aber nicht nur unspezifisch sein, sondern auch ziemlich divers. Lesen wir einen Satz wie „Die Zuschauer klatschten“, so denken die meisten von uns wohl eher an eine buntgemischte Menge. Das gilt mit Sicherheit auch bei: „Die Demonstranten hatten sich vor dem Reichstag versammelt.“

Gegen die Mehr-Männer-These spricht ein weiterer Punkt. „Wortassoziationen sind hochgradig subjektiv. Während der eine beim Wort Musiker an einen gemischten Chor denkt, fällt dem anderen ein männlicher Gitarrist ein“, sagt Ewa Trutkowski. Einen Eindruck davon, wie verschieden innere Bilder sein können, geben Debattenbeiträge: Mit dem Wort Ärzte assoziiere er „weiße Kittel“, schreibt über das Gendern Ingo Meyer, Redakteur der Berliner Zeitung. Beim Plural Lehrer denken sie „vor allem an Frauen“, berichten User auf Twitter. „Lehrer“ löse bei ihr gar keine spezifischen Vorstellungen von Personen aus, so eine Nutzerin des Meinungsforums der Welt. Sie verstehe das Wort als Berufsbezeichnung.

Fassen wir zusammen: Die Behauptung, die Personenbezeichnungen würden primär männliche Vorstellungen hervorrufen, ist offenbar so nicht haltbar. Die Bilder im Kopf können (sofern sie überhaupt ausgelöst werden) neutral, unbestimmt oder „buntgemischt“ sein. Zudem unterscheiden sie sich von Mensch zu Mensch bisweilen erheblich.

Die Vernachlässigung dieser individuellen Unterschiede ist nach Ansicht des Sprachwissenschaftlers Martin Neef eines der Hauptprobleme der Studien. Ein vielleicht noch gewichtigeres Manko: Die Tests vernachlässigen maßgebliche Faktoren bei der Entstehung von Assoziationen. Woran wir bei einem Wort denken, wie wir es verstehen, hängt, wie Sprachwissenschaftler betonen, von einer Vielzahl sprachlicher und außersprachlicher Einflussfaktoren ab.

Kontext macht klar, wie ein Wort gemeint ist

Kontext, Wortart, Numerus (Plural oder Singular), Syntax, relative Häufigkeit von Maskulina und Wortformen auf „-in“ im allgemeinen Sprachgebrauch sowie das Weltwissen sind laut Forschung nur einige der Faktoren, die mitbestimmen, was uns bei Wörtern durch den Kopf geht, wie der Linguist Franz Rainer dargelegt hat.

Besonders gewichtig ist nach Ansicht von Wissenschaftlern wie Rainer und Neef der Kontext, in dem ein Wort eingebettet ist, ein Satz steht. Ist in einem Bericht über ein Fußballspiel von den Zuschauern die Rede, so entstehen andere Vorstellungen vom Publikum als bei einem Artikel, der die Zuschauer in einem Zirkuszelt erwähnt. Und heißt es in der Zeitung, „Die Ukrainer sehnen sich nach Frieden“, so denkt (im Kontext des gegenwärtigen Krieges) mit Sicherheit niemand nur an Männer.

Doch in den Studien wird dieser Kontextfaktor übergangen oder sogar gezielt ausgeblendet: Die Forscher testen Wörter oder Sätze entweder kontextlos, oder sie untersuchen Wort-Assoziationen nur in einem einzigen Kontext, was aber Rückschlüsse auf andere Kontexte nicht zulässt, wie die genannten Beispiele hoffentlich verdeutlichen.

Rainer, Neef sowie der Germanist Fabian Payr („Von Menschen und Mensch*innen“, Springer-Verlag) sehen darin ein besonders gravierendes Problem der Tests. Durch den Kontext werde im normalen Sprachgebrauch in aller Regel klar, ob die geschlechtsneutrale oder die männliche Lesart gemeint sei, sagt Rainer. Falls das einmal unklar sei, würden die Sprecher des Deutschen „spontan eine Doppelform“ nutzen.

Ein weiterer Faktor bei Wortassoziationen können laut Forschung Stereotype oder Rollenbilder sein. Doch auch ihr Einfluss wird in den meisten Experimenten nicht berücksichtigt, bemängelt etwa der Sprachphilosoph Philipp Hübl. Er zweifelt die Aussagekraft der Studien daher stark an.

Doch die Kritik beschränkt sich längst nicht auf die Vernachlässigung solcher Einflussfaktoren. Linguisten und Germanisten haben in den Studien eine bemerkenswerte Menge weiterer schwerwiegender wissenschaftlicher Mängel ausgemacht. Eine der gewichtigsten Unzulänglichkeiten kritisiert etwa der Linguist Martin Neef: Durch die Fragestellung werde „in vielen Tests die männliche Lesart aktiviert“. Mit anderen Worten: Die Tests führen in die Irre.

Zu diesem Ergebnis kam auch die Sprachwissenschaftlerin Gisela Zifonun, als sie sich eine besonders viel zitierte Studie ansah (Gygax et al., 2008). In einem weiteren Experiment (Heise, 2000) fand die Grammatik-Expertin nur einen einzigen generischen Gebrauch des Maskulinums in allen acht Testsätzen. Hinzu kommt, dass die Studien laut Zifonun Wörter (wie so oft) nur in einem spezifischen Kontext untersuchen. Zifonuns Resümee: „Tests dieser Art sagen nichts aus über eine generell mit dem generischen Maskulinum assoziierte mentale Sexus-Zuweisung (…)“ Heißt: Die Aussagekraft solcher Experimente ist im Grunde gleich null.

Wer ist Ihr Lieblingsmusiker? Die Frage ist irreführend

Dass das generische Maskulinum in den Studien verwendet wird, wo es unüblich ist, bemängelt in seinem Buch zum Thema auch der Germanist Tomas Kubelik („Genug gegendert!“, Projekte Verlag 2013). Erschwerend kommt hinzu, dass bisweilen nur der Singular („ein Lehrer“) untersucht wurde. Aber das bedarf vielleicht einer kurzen Erläuterung. Wenn wir im normalen Sprachgebrauch über eine einzelne konkrete Person, ein bestimmtes Individuum sprechen, sagen wir beispielsweise mein Nachbar oder meine Nachbarin, der Schüler oder die Schülerin usw. Oder andersherum: Niemand, der nicht täuschen möchte, sagt, er besuche seinen Nachbarn, wenn es sich um eine Frau handelt. (Das Beispiel stammt von Ewa Trutkowski.)

Wird über konkrete oder imaginierte Einzel-Personen geschrieben, ist es dasselbe. Die Nachrichtenagenturen melden: „Die Fußgängerin wurde schwer verletzt“ oder „Der Radfahrer kam in ein Krankenhaus“. Und im Roman heißt es vielleicht: „Ein Zuschauer sprang von seinem Sessel auf und stürzte aus dem Saal“. Tests der Art „Wer ist Ihr Lieblingsmusiker?“ (Stahlberg, Sczesny, 2000, 2001) oder „Male einen Arzt“ (Durau, 2021) sind daher irreführend. Denn auch sie legen eine männliche Lesart nahe.

Doch auch wenn sie den Plural verwenden, sind solche Studien unbrauchbar. In einem Experiment sollten die Probanden unter anderem drei berühmte Politiker, Sportler und Sänger nennen (Stahlberg, Sczesny, 2000, 2001). Es dürfte einleuchten, dass solche Tests weder etwas über etwaige Assoziationen bei der Lektüre einer Zeitung noch im Gespräch aussagen. Und rein gar nichts über das Verstehen der Wörter in Zeitungen oder im Gespräch.

Denn die Einbettung in einen Kontext (der hier fehlt) macht, wie wir wissen, im normalen Sprachgebrauch klar, was mit dem Wort gemeint ist. Geht es um Politiker ganz allgemein („Politiker sind auch nur Menschen“), um eine gemischtgeschlechtliche Gruppe von Politikern („598 Politiker sitzen im Bundestag“) oder um Politiker, deren Geschlecht unbekannt ist („Drei namentlich nicht genannte Politiker aus Union und SPD …“)? Oder geht es spezifisch um männliche Politiker? („Die beiden Politiker haben sich immer wieder die Treue bekundet“ – in einem Artikel über Gerhard Schröder und Wladimir Putin.) Doch selbst in nichtssagenden Experimenten solcher Art wurden nicht nur Männer, sondern lediglich mehr Männer genannt.

Die Mängelliste ist aber noch wesentlich länger. Der Germanist Fabian Payr fand einen besonders großen Schwachpunkt in dem viel zitierten Test, den Gisela Zifonun kritisiert hat (Gygax et al., 2008).

In dieser Studie präsentierten Forscher den Probanden eine Reihe von Satzpaaren. Per Tastendruck sollten die Testpersonen entscheiden, ob der zweite Satz eine sinnvolle Fortsetzung des ersten darstelle. Das Problem laut Payr: Ein (Fortsetzungs-)Satz wie „Wegen der schönen Wetterprognose trugen mehrere der Frauen keine Jacke“ kann so interpretiert werden, dass hier von einer ausschließlich weiblich besetzten Gruppe die Rede ist. „Dann wundern Sie sich natürlich, warum vorher von ‚Sozialarbeitern‘ die Rede war und nicht gleich von ‚Sozialarbeiterinnen‘“, so der Germanist.

Die Studien sind meist nicht einmal repräsentativ

Wenn also die Satzfortsetzungen als „nicht sinnvoll“ oder nicht gleich als sinnvoll eingestuft werden, hat das schlicht mit dem Design der Studie zu tun, und nichts mit dem generischen Maskulinum. Dass Payr richtig liegt, zeigen Befunde aus einer Neuauflage der Studie (Körner et al., 2022). Dort bewerteten die Probanden fast ein Fünftel (18 Prozent) der Fortsetzungen als „nicht sinnvoll“, und zwar sogar dann, wenn nach einem generischen Maskulinum im zweiten Satz von „Männern“ die Rede war.

Dieses und noch ein weiteres relevantes Ergebnis der Studie thematisieren Studienautoren allerdings nicht: Die Probanden verstanden selbst in diesem irreleitenden Experiment generische Maskulina wie etwa Zuschauer, Künstler, Apotheker oder Kinderärzte in 71 Prozent der Fälle als geschlechtsneutral. So oft nämlich ergab eine weibliche Fortsetzung mit zum Beispiel „die Frauen“ für sie Sinn.

Es ließen sich weitere Punkte nennen, die an den psycholinguistischen Tests kritisiert wurden. Der Germanist Kubelik bemängelt in seinem Buch an verschiedenen Studien, dass das biologische Geschlecht überhaupt erst durch Nachfragen ins Bewusstsein der Probanden gehoben werde. Ein weiterer großer Schwachpunkt der Labor-Experimente: An fast allen Tests nahmen nur Studenten teil, bisweilen gerade mal 20 Probanden. Oft sind nicht einmal die Geschlechter korrekt repräsentiert: Teilweise lag der Frauenanteil unter den Probanden bei über 70 Prozent. Und in einem Fall, einem Experiment von 2012, waren es sogar 100 Prozent: 36 Studentinnen der Universität Bern.

Kurz: Die Ergebnisse aus den ohnehin fragwürdigen Studien, die mit dem üblichen Sprachgebrauch oft nichts zu tun haben, sind noch nicht einmal auf die Gesamtbevölkerung übertragbar. Die Linguistin Gisela Klann-Delius hat das in „Sprache und Geschlecht“ (Metzler-Verlag) problematisiert. Rainer und Neef kritisieren die verwendeten Stichproben ausdrücklich.

Falsch zusammengefasst, fragwürdig interpretiert

Bei dieser Fülle an wissenschaftlichen Mängeln kann man schon mit Kritikern wie Kubelik oder dem Soziologen Stefan Beher zu dem Eindruck gelangen, dass hier nicht unvoreingenommen geforscht wurde. Kubelik hält den Wissenschaftlern vor, sie würden bestimmte Beweise erbringen wollen, statt objektiv und ergebnisoffen zu forschen. Besonders eindrücklich zeigt der Germanist das an Fällen, in denen die Forschungsergebnisse von den Studienautoren stark verzerrt wiedergegeben oder gar falsch zusammengefasst werden. Fragwürdig interpretiert werden sie fast immer.

Ergebnisse, die nicht ins Bild vom frauenbenachteiligenden Maskulinum passen, ignorieren Studienautoren und Genderbefürworter immer wieder. Der erwähnte Test mit den Satzfortsetzungen ist nur ein Beispiel dafür. Franz Rainer hat noch etwas anderes festgestellt, das Anhänger der Gendersprache so gut wie nie erwähnen: Die Tendenz zur männlichen Lesart der untersuchten Wörter („male bias“) ist selbst in den Studien oft „überraschend gering“. Gebe man noch den Kontext dazu, meint Rainer, bleibe „von dem ‚bias‘ meistens nicht mehr allzu viel übrig“.

Entsprechend sind in den Studien auch die Effekte des Genderns nur äußert bescheiden, teils nicht einmal messbar. Doch auch das sparen Genderbefürworter gerne aus, wenn sie sich auf diese „Studien“ berufen. Ein paar Beispiele:

In einem Experiment mit Nachrichtentexten (Blake, Klimmt, 2008) sollten die Probanden den Frauenanteil bei einer Demonstration schätzen. War von „Demonstrantinnen und Demonstranten“ die Rede, lag der angenommene Frauenanteil um nur rund drei Prozent höher als in der Version mit generischem Maskulinum. Bei einem weiteren Text („Ärztinnen und Ärzte“ vs. „Ärzte“) hatte das Gendern „keinen signifikanten Einfluss“. Die Befunde konnten nicht einmal „gegen den Zufall abgesichert“ werden.

Bei dem Test mit den bekannten Politikern, Sportlern, Sängern usw. (Stahlberg, Sczesny, 2000, 2001) waren die Gendereffekte genauso dürftig. Die Probanden sollten insgesamt zwölf Prominente nennen. War die Aufgabe mit generischem Maskulinum formuliert, nannten sie im Mittel 2,4 Frauen. Beim Gendern mit Doppelnennung lagen die Werte gerade mal 0,3 Punkte höher, bei 2,7 Frauen.

In einer weiteren Studie führt die „geschlechtergerechte Sprache“ nur dann zu Nennung von mehr Frauen, wenn Frauen in einer Kategorie (wie einer politischen Partei) in „angemessener oder relevanter Häufigkeit vertreten waren“ (ebenfalls in Stahlberg, Sczesny, 2000, 2001).

Einmal absolut winzig und einmal „statistisch nicht signifikant“ (heißt: die Werte lagen unterhalb der Zufallsschwelle) waren die Effekte von Doppelformen („Ingenieurin oder Ingenieur“ usw.) in einem Test mit Schulkindern (Vervecken, Hannover, 2015): Auf einer Skala von 1 bis 5 lagen die Werte gerade mal um 0,07 bis 0,26 höher als bei Verwendung von generischem Maskulinum.

Noch bescheidenere Resultate maßen Forscher in einer Studie mit Fernsehmoderationen (Jöckel et al., 2021). Getestet wurden unter anderem Beidnennungen und „neutrale Formen“, wie „die Polizei“. Das Gendern hatte (abgesehen von statistisch irrelevanten Abweichungen in Höhe von 0,12, 0,78 bzw. 1,7 Punkten auf einer Skala von 1 bis 21) bei den erwachsenen Versuchspersonen keinen Effekt. Heißt: Es spielte für die Getesteten keine Rolle, ob der Moderator von Polizisten, Polizistinnen und Polizisten oder von der Polizei sprach.

Wörter mit Sprechpausen werden für weibliche Form gehalten

Einzig die Gender-Sprechpause vor dem „innen“ führte zu einer etwas häufigeren Nennung von Frauen. Der Befund mag auf den ersten Blick überraschen, da diese Genderform von vielen Menschen besonders stark abgelehnt wird. Der wahrscheinlichste Grund für den – nicht sehr großen – Effekt findet sich in Rohdaten der Studie, die einer der Forscher freundlicherweise zur Verfügung stellte: Offenbar hatte eine erhebliche Zahl an Probanden die Wörter mit Sprechpause für eine weibliche Form gehalten. Statt „Polizist:innen“ verstanden sie offenbar „Polizistinnen“. Laut den Daten interpretierten mindestens 17 Prozent „Polizist:innen“ als rein weibliche Form, bei „Schüler:innen“ waren es zehn Prozent, bei „Pfleger:innen“ sieben Prozent.

Weitere Fälle winziger oder gar nicht messbarer Gendereffekte in Studien nennt der Germanist Tomas Kubelik in seinem Buch. Wie er zeigt, führte in manchen Tests das Gendern teils sogar zu einem mentalen Männerüberschuss (Kusterle, 2011; Klein, 2004).

Manch einer mag nun vielleicht einwenden, das Gendern hätte laut den Studien also wenigsten in einzelnen Fällen einen Effekt, wenn auch einen sehr kleinen. Doch das übersieht, welche Mängel die Studien schon bei der Fragestellung aufweisen. Etwa, indem sie die männliche Interpretation der Wörter von vornherein nahelegen. Über das generische Maskulinum im normalen Sprachgebrauch sagen solche Tests, wie schon dargelegt, ohnehin nichts aus.

Das ist schon fast alles, was man über die Aussagekraft und Relevanz der sogenannten Assoziationstests und ihre Deutung durch Genderbefürworter wissen muss. Außer vielleicht noch dies: Es handelt sich bei der gesamten Forschung zum Thema um lediglich eine Handvoll Untersuchungen, die wieder und wieder zitiert werden. Getestet wurden oft nur fünf, zehn oder zwölf Wörter; im Fall der TV-Moderationen waren es sogar nur drei Wörter.

Damit sollte eigentlich klar sein, dass eine Hauptthese zur Gendersprache nichts weiter ist als eine Behauptung. Es gibt schlichtweg keine wissenschaftlichen Belege, dass „wir beim generischen Maskulinum eher an Männer denken“ (und auch nicht, dass sich „die meisten beim generischen Maskulinum vor allem Männer vorstellen“). Nein, es gibt bloß eine sehr überschaubare Anzahl von Tests, die fast alle mit Studenten durchgeführt wurden und ein paar Maskulina in einem oder wenigen Kontexten untersuchten.

Eine letzte Studie sei hier noch erwähnt. Der Test von 2015 (Vervecken, Hannover) soll belegt haben, dass Gendern zu mehr Gerechtigkeit unter den Geschlechtern beitragen könne. In der Studie hätten sich Kinder „viel eher“ zugetraut, einen typischen Männerberuf wie Ingenieur zu ergreifen, wenn sie Doppelnennungen („Ingenieurinnen und Ingenieure“) statt des generischen Maskulinums hörten. So steht es u. a. in einer Pressemitteilung der Freien Universität Berlin.

Bei der Berufswahl spielen ganz andere Faktoren eine Rolle

Diese Darstellung ist bemerkenswert. Denn in Wahrheit waren die Effekte der Benennungen, wie oben dargelegt, mal absolut winzig, mal statistisch gesehen nicht vorhanden. Zur Erinnerung: Die Werte lagen auf einer Skala von 1 bis 5 gerade mal um 0,07 bis 0,26 höher als beim generischen Maskulinum.

Das wurde getestet: In einem ersten Experiment sollten die Kinder das Einkommen in verschiedenen Berufen schätzen (1 = sehr wenig, 5 = sehr viel). Geringere Wert interpretierten die Studienautoren dann als eine höhere „Zugänglichkeit“ zum Beruf. In einem zweiten Experiment gaben die Kinder auf einer Skala von 1 bis 5 an, wie zuversichtlich sie sind, als Erwachsene eine Qualifikationsprüfung für einen Beruf wie z.B. Ingenieur oder Maurer zu bestehen.

Bemerkenswert ist neben den winzigen – oder gar nicht vorhandenen – Gendereffekten die Wahl einiger Berufsbezeichnungen. Begriffe wie „Feuerwehrmänner“ oder „Geschäftsmänner“ sind stark sexusmarkiert und keine generischen Maskulina. Das ist nicht nur wissenschaftlich unseriös bei einer Studie, die vorgibt, das generische Maskulinum untersucht zu haben. Wenn man der Logik des Tests folgt, ist es auch psychologisch relevant. Denn dass kleine Mädchen Probleme haben dürften, sich als „Feuerwehrmänner“ oder „Geschäftsmänner“ zu sehen, ist zu erwarten. Berücksichtigt man dies, fallen die gemessenen winzigen Effekte natürlich noch geringer aus.

Genderbefürworter zitieren die Studie üblicherweise so, als sei mit ihr etwas bewiesen. Dabei übersehen sie aber nicht nur die verschwindend geringen Effekte in einem einzelnen, nicht wiederholten Laborexperiment mit zweifelhaften Fragestellungen und zum Teil inadäquaten Begriffen. Sie übersehen vor allem die eigentlich relevanten Größen. Welche Faktoren bei der Berufswahl eine Rolle spielen, ist aus der Sozialforschung bekannt: Sozialer Hintergrund, Schulabschluss, Arbeitsplatzsicherheit, Verdienstaussichten, Talente, Neigungen und Interessen, der Rat der Eltern und in bestimmten Fällen auch der Beruf eines Elternteils sind einige davon. Dass ein im Laborexperiment gemessener spontaner Spracheffekt auf ein angebliches „Sich-Zutrauen“ hier noch einen nennenswerten Faktor darstellt, erscheint  äußert unwahrscheinlich.

Wer diese Studie zitiert, geht üblicherweise darüber hinweg, dass die Studienautoren selbst genau diese und weitere Einschränkungen machen: Faktoren wie sozioökonomischer Hintergrund, Interesse und Intelligenz dürften nicht außer Acht gelassen werden, wenn man versuche, Berufswahlentscheidungen zu verstehen, schreiben sie. Und auch berufliche Interessen dürfe man nicht vernachlässigen. Nötig seien Wiederholungen des Tests, Langzeitstudien (sogenannte Längsschnittstudien) und so weiter.

Die Mehrheit der jungen Anwälte in Deutschland sind Frauen

Dass sich Frauen nicht davon abhalten lassen, einen Berufsweg einzuschlagen, weil generische Maskulina im allgemeinen Sprachgebrauch und in den Medien gängig sind, zeigen indes die wirklich belastbaren Daten. Von der Grundschule bis zum Gymnasium dominieren Frauen in allen Schulformen mit insgesamt 73,4 Prozent den Lehrerberuf. Etwa 70 Prozent der Medizinstudenten sind weiblich, 72 Prozent der Apotheker in Deutschland sind Frauen und ebenso die Mehrheit der junge Anwälte bei ihrer Erstzulassung.

Wie häufig generische Maskulina übrigens generell in den Medien verwendet werden, zeigt eine Auswertung des Rechtschreibrates von 2021: Auf mehr als zwei Millionen generische Maskulina kamen 15.000 Genderformen. Genderquote: 0,7 Prozent. Die immer wieder zitierten Studien liefern keinen Grund, daran etwas zu ändern.

Dieser Beitrag unterliegt der Creative Commons Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nicht kommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung sowie unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.

„Lehrer“ war nie ein Wort bloß für Männer

Den folgenden Artikel habe ich für die Berliner Zeitung geschrieben. Der Text unterliegt der Creative Commons Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0), weshalb ich ihn hier ungekürzt zweitveröffentlichen kann.

Eine Studie belegt: Das generische Maskulinum war schon immer geschlechtsneutral. Auch die These, es sei ursprünglich einmal die „männliche Form“ gewesen, wird durch die Untersuchung widerlegt. Mit „männlich“ hat das sogenannte Maskulinum nie etwas zu tun gehabt.

Das Deutsche sei eine „Männersprache“, schrieb die feministische Linguistin Luise F. Pusch 1984. Ihre Thesen wurden von Sprachwissenschaftlern als unhaltbar und unwissenschaftlich zurückgewiesen. Doch sie trugen dazu bei, dass heute manche Menschen glauben, mit „Lehrer“ seien bloß Männer gemeint.

Eine neue Studie zeigt nun, dass Bezeichnungen wie „Lehrer“ im Deutschen schon immer für beide Geschlechter benutzt wurden. Die empirische Studie ist laut den Autoren die erste systematische Untersuchung ihrer Art.

Bereits frühere Forschungen zum Indogermanischen zeigen, dass zwischen grammatischem und biologischem Geschlecht bei Personenbezeichnungen keine Übereinstimmung besteht, berichten die Sprachwissenschaftler Ewa Trutkowski und Helmut Weiß in ihrer Arbeit.

Demnach unterschied man in der indogermanischen „Grundsprache“ bei Bezeichnungen für Menschen, Tiere, Pflanzen und Dinge lediglich zwischen „belebt“ und „unbelebt“. Die Kategorie „belebt“ umfasste also sowohl Frauen als auch Männer. Aus diesem „Genus commune“ entwickelte sich später das sogenannte Maskulinum. Der geschlechtsübergreifende Gebrauch des Maskulinums (das „generische Maskulinum“) im Deutschen gehe auf die indogermanische Zeit zurück, so Studienautor Weiß.

Das sogenannte Femininum sei erst später entstanden und umfasste zunächst vor allem Begriffe für Kollektives und Abstraktes, schreiben die Forscher. Auch einige Personenbezeichnungen gehörten zu diesen ersten Feminina, beispielsweise „lada“ („Frau“) aber auch „xuga“ („Großvater“). „Diese Befunde machen eigentlich schon deutlich, dass sich in der Grammatik die Geschlechterverhältnisse nicht widerspiegeln“, sagt Weiß.

These der feministischen Linguistik widerlegt

Die beiden Forscher analysierten für ihre Studie nun den Gebrauch des Maskulinums in den frühen Epochen des Deutschen. Dazu werteten sie unter anderem Minnelieder, Gedichte, Erzählungen und biografische Sachtexte aus. Der älteste Text datiert auf das neunte Jahrhundert (die „Evangelienharmonie“ entstand zwischen 863 und 871).

„Es zeigt sich, dass Wörter wie ‚Bürger‘, ‚Freunde‘, ‚Nachbarn‘, ‚Gast‘ oder auch ‚Richter‘ schon immer geschlechtsunspezifisch verwendet werden konnten“, sagt Ewa Trutkowski. Damit sei auch eine These der feministischen und der Genderlinguistik widerlegt.

Frühere wissenschaftliche Arbeiten von Vertretern der Genderlinguistik hätten nur Bezeichnungen für Berufe und Funktionen herangezogen, die einst Männern vorbehalten waren, so die Wissenschaftler. „Maurer“ oder „Bürgermeister“ würden dann als Belege dafür angeführt, dass das Maskulinum ursprünglich nur Männer bezeichnet hätte – und erst dann auch als geschlechtsübergreifende Form verwendet worden sei, als Frauen in diese Berufe und Positionen drängten. Dies sei „ein Irrtum und ein gravierender Fehlschluss“, sagt Trutkowski, „das zeigen unsere Befunde ganz klar. Maskulina wurden im Deutschen generell schon immer für beide Geschlechter verwendet.“

Für die Sprachwissenschaftlerin steht nach der Analyse fest: „Es gibt keine linguistisch fundierte Begründung, anzunehmen, dass mit dem generischen Maskulinum eine Benachteiligung von Frauen oder nichtbinären Personen vorliegt. Weder sprachhistorisch noch sprachsystematisch lässt sich eine Diskriminierung nachweisen.“

Vom Gendern, bei dem „Lehrer“ als geschlechtsneutraler Begriff vermieden werden soll, halten die Linguisten aber noch aus einem anderen Grund nichts. Das generische Maskulinum werde von den Menschen ganz selbstverständlich verwendet und verstanden, so Trutkowski. „Es gibt von daher keinen Grund, es durch andere Formen zu ersetzen.“

Die Studie „Zeugen gesucht! Zur Geschichte des generischen Maskulinums im Deutschen“ ist unter https://lingbuzz.net/lingbuzz/006520 abrufbar.

Mehr Gleichberechtigung durch die türkische Sprache?

Die Journalistin Naz Kücüktekin stellte in ihrer Kolumne im österreichischen Kurier jüngst eine bemerkenswerte These auf. Das Türkische könne zu mehr Gleichberechtigung unter den Geschlechtern führen, schrieb sie. Wie kommt die Autorin darauf?

Die türkische Sprache kennt kein grammatisches Geschlecht (Genus), was sie sozusagen „geschlechtsneutral“ macht, wie die Autorin richtig feststellt. Kücüktekins Schlussfolgerung aus diesem Umstand darf man allerdings infrage stellen. Sie lautet: Durch die Genuslosigkeit des Türkischen werde „geschlechtsneutrales Denken ermöglicht“.

Dass die türkische Realität das genaue Gegenteil nahelegt, weiß die Autorin. Und obwohl sie dieses Argument nicht entkräften kann, bleibt sie bei ihrer Annahme. Der simple Scheinzusammenhang „geschlechtsneutrale Sprache, geschlechtsneutrales Denken“ ist offenbar zu verführerisch.

Aber kommen wir zum Kernproblem des Textes. Es besteht darin, wie die Autorin den Stand der wissenschaftlichen Debatte darstellt. Kücüktekin schreibt:

„Wissenschaftlich herrscht Konsens darüber, dass die Sprache auch einen Einfluss darauf hat, wie wir denken und in späterer Folge auch handeln. Dass sich etwa mehr Frauen für Jobausschreibungen bewerben, wenn die Stelle auch explizit in der weiblichen Form angegeben ist.“

Lassen wir einmal außen vor, dass Sprache und Denken riesige Begriffe sind. Es geht Kücüktekin schließlich um die Grammatik, genauer: das Genus und dessen mutmaßlichen Einfluss auf ein Denken bzw. Handeln, das der Geschlechtergerechtigkeit in irgendeiner Weise förderlich oder abträglich sein soll.

Es bedarf keiner aufwendigen Recherche, um zu erkennen, dass es den von Kücüktekin behaupteten wissenschaftlichen Konsens in dieser Frage nicht gibt. Die These ist im Gegenteil hochumstritten.

So erklärt beispielsweise der Sprachwissenschaftler Franz Rainer im Interview mit der Welt:

„Ich halte diese ganzen Behauptungen für völlig überzogen. Und das ist ja irgendwo das Fundament dieser Bewegung: der Glaube daran, dass man durch ein verändertes Sprechen das Bewusstsein verändern kann und dadurch die Wirklichkeit ändern könnte. Das ist vor allem in Bezug auf grammatikalische Kategorien wie das generische Maskulinum völlig verfehlt, denn die verwenden wir ja total unbewusst.“

Der Linguist Hans-Martin Gauger konstatiert in der FAZ:

„Die feministische Sprachkritik überschätzt gewaltig die bewusstseinsbildende Macht einer Sprache.“

Und der Sprachphilosoph Philipp Hübl schreibt in der NZZ:

„(D)ie starke These der Verfechter*innen der geschlechtsneutralen Sprache lautet kurz gefasst: Sprache prägt das Bewusstsein. Diese Auffassung findet sich bei Nietzsche, Adorno und ist bis heute in den Geisteswissenschaften verbreitet. Sie gilt in der analytischen Philosophie und der Linguistik allerdings als äusserst fragwürdig (…)“

Weitere Kritiker der These sind die Linguisten Wolfgang Klein, Gisela Klann-Delius, Heide Wegener, Antje Baumann, Gero Fischer u. a. m. Kurz: Kücüktekins Darstellung ist schlichtweg falsch.

In einem weiteren Punkt ist der Artikel irreführend. Zum vermeintlichen Beleg ihrer These verlinkt Kücüktekin eine Studie, die zeigen soll,

„(d)ass sich etwa mehr Frauen für Jobausschreibungen bewerben, wenn die Stelle auch explizit in der weiblichen Form angegeben ist.“

Tatsächlich zeigt diese Studie nicht, was Kücüktekin behauptet. Sie untersucht es noch nicht einmal. In dem Test ging es darum, ob die verwendete Sprachform bei Positionsbezeichnungen in Stellenanzeigen (generisches Maskulinum vs. Doppelnennung) einen Einfluss darauf hat, für wie geeignet Versuchsteilnehmer Frauen für eine Stelle halten:

„The present study was designed to gain insights into the effects of linguistic forms in job advertisements on personnel selection procedures. Employing a hiring-simulation paradigm, we investigated whether the use of masculine forms in advertisements for a leadership position was associated with a perceived lack of fit for women and whether word pairs could reduce this lack of fit.“

Wurde hier nur falsch verlinkt?

Bei meinen Recherchen zum Thema geschlechtergerechte Sprache habe ich die Behauptung, das generische Maskulinum würde Frauen davon abhalten, sich auf Stellen zu bewerben, oft gelesen, doch bislang keine Studie gefunden, die dies belegen würde. Das beweist natürlich noch nicht, dass ein solcher Beleg nicht irgendwo existiert. Wenn ich es auch stark bezweifle.

Sicher ist vorerst nur dies: Naz Kücüktekins Kolumne zum Gendern der Sprache stellt eine Behauptung auf, die nachweislich falsch ist. Eine zweite Behauptung, die äußerst fragwürdig erscheint, belegt sie nicht. Mit Journalismus hat das nicht viel zu tun.