Die Journalistin Naz Kücüktekin stellte in ihrer Kolumne im österreichischen Kurier jüngst eine bemerkenswerte These auf. Das Türkische könne zu mehr Gleichberechtigung unter den Geschlechtern führen, schrieb sie. Wie kommt die Autorin darauf?

Die türkische Sprache kennt kein grammatisches Geschlecht (Genus), was sie sozusagen „geschlechtsneutral“ macht, wie die Autorin richtig feststellt. Kücüktekins Schlussfolgerung aus diesem Umstand darf man allerdings infrage stellen. Sie lautet: Durch die Genuslosigkeit des Türkischen werde „geschlechtsneutrales Denken ermöglicht“.

Dass die türkische Realität das genaue Gegenteil nahelegt, weiß die Autorin. Und obwohl sie dieses Argument nicht entkräften kann, bleibt sie bei ihrer Annahme. Der simple Scheinzusammenhang „geschlechtsneutrale Sprache, geschlechtsneutrales Denken“ ist offenbar zu verführerisch.

Aber kommen wir zum Kernproblem des Textes. Es besteht darin, wie die Autorin den Stand der wissenschaftlichen Debatte darstellt. Kücüktekin schreibt:

„Wissenschaftlich herrscht Konsens darüber, dass die Sprache auch einen Einfluss darauf hat, wie wir denken und in späterer Folge auch handeln. Dass sich etwa mehr Frauen für Jobausschreibungen bewerben, wenn die Stelle auch explizit in der weiblichen Form angegeben ist.“

Lassen wir einmal außen vor, dass Sprache und Denken riesige Begriffe sind. Es geht Kücüktekin schließlich um die Grammatik, genauer: das Genus und dessen mutmaßlichen Einfluss auf ein Denken bzw. Handeln, das der Geschlechtergerechtigkeit in irgendeiner Weise förderlich oder abträglich sein soll.

Es bedarf keiner aufwendigen Recherche, um zu erkennen, dass es den von Kücüktekin behaupteten wissenschaftlichen Konsens in dieser Frage nicht gibt. Die These ist im Gegenteil hochumstritten.

So erklärt beispielsweise der Sprachwissenschaftler Franz Rainer im Interview mit der Welt:

„Ich halte diese ganzen Behauptungen für völlig überzogen. Und das ist ja irgendwo das Fundament dieser Bewegung: der Glaube daran, dass man durch ein verändertes Sprechen das Bewusstsein verändern kann und dadurch die Wirklichkeit ändern könnte. Das ist vor allem in Bezug auf grammatikalische Kategorien wie das generische Maskulinum völlig verfehlt, denn die verwenden wir ja total unbewusst.“

Der Linguist Hans-Martin Gauger konstatiert in der FAZ:

„Die feministische Sprachkritik überschätzt gewaltig die bewusstseinsbildende Macht einer Sprache.“

Und der Sprachphilosoph Philipp Hübl schreibt in der NZZ:

„(D)ie starke These der Verfechter*innen der geschlechtsneutralen Sprache lautet kurz gefasst: Sprache prägt das Bewusstsein. Diese Auffassung findet sich bei Nietzsche, Adorno und ist bis heute in den Geisteswissenschaften verbreitet. Sie gilt in der analytischen Philosophie und der Linguistik allerdings als äusserst fragwürdig (…)“

Weitere Kritiker der These sind die Linguisten Wolfgang Klein, Gisela Klann-Delius, Heide Wegener, Antje Baumann, Gero Fischer u. a. m. Kurz: Kücüktekins Darstellung ist schlichtweg falsch.

In einem weiteren Punkt ist der Artikel irreführend. Zum vermeintlichen Beleg ihrer These verlinkt Kücüktekin eine Studie, die zeigen soll,

„(d)ass sich etwa mehr Frauen für Jobausschreibungen bewerben, wenn die Stelle auch explizit in der weiblichen Form angegeben ist.“

Tatsächlich zeigt diese Studie nicht, was Kücüktekin behauptet. Sie untersucht es noch nicht einmal. In dem Test ging es darum, ob die verwendete Sprachform bei Positionsbezeichnungen in Stellenanzeigen (generisches Maskulinum vs. Doppelnennung) einen Einfluss darauf hat, für wie geeignet Versuchsteilnehmer Frauen für eine Stelle halten:

„The present study was designed to gain insights into the effects of linguistic forms in job advertisements on personnel selection procedures. Employing a hiring-simulation paradigm, we investigated whether the use of masculine forms in advertisements for a leadership position was associated with a perceived lack of fit for women and whether word pairs could reduce this lack of fit.“

Wurde hier nur falsch verlinkt?

Bei meinen Recherchen zum Thema geschlechtergerechte Sprache habe ich die Behauptung, das generische Maskulinum würde Frauen davon abhalten, sich auf Stellen zu bewerben, oft gelesen, doch bislang keine Studie gefunden, die dies belegen würde. Das beweist natürlich noch nicht, dass ein solcher Beleg nicht irgendwo existiert. Wenn ich es auch stark bezweifle.

Sicher ist vorerst nur dies: Naz Kücüktekins Kolumne zum Gendern der Sprache stellt eine Behauptung auf, die nachweislich falsch ist. Eine zweite Behauptung, die äußerst fragwürdig erscheint, belegt sie nicht. Mit Journalismus hat das nicht viel zu tun.